Heinrich Hannover Der Mann, der keine Ruhe
gibt Die Vereinigung Demokratischer Juristen ehrt
den Rechtsanwalt Heinrich Hannover mit dem Hans-Litten-Preis und würdigt damit
sein unermüdliches Eintreten für Demokratie und Menschenrechte. Die Laudatio. VON INGRID MÜLLER-MÜNCH Rechtsanwalt Heinrich Hannover (Foto: dpa) O-tibbele-tabbele-tobbele-teer, Es war einmal ein kleiner Bär. Der hat' seine Brille vergessen Und hätt' doch so gern was gefressen. Da sah er - o-trippele-traum- Im Garten den hohen Baum. Er dachte - o-kippele-kirnen-: "Der Baum hängt bestimmt voller
Birnen." O-wibbele-wabbele-wettern, Und so fing der Bär an zu klettern. Doch- o-tibbele-tabbele-tirke - Der Baum, der war leider ‚ne Birke. Der Mann, aus dessen Feder dieses
Kindergedicht über den kurzsichtigen Bären stammt, dieser Mann gibt einfach
keine Ruhe. Ob neulich erst auf der Tanzfläche, auf der er mich mit seinen 82
Jahren so herumwirbelte, dass mir schier der Atem stockte. Oder vor einiger
Zeit, als ich ihn zu Hause in Worpswede telefonisch zu erreichen versuchte,
schon glaubte, ihm sei etwas geschehen, weil nie jemand abhob. Um dann zu
erfahren, dass er stundenlang mit seiner geliebten Doris zu Fahrradtouren
unterwegs war. Heinrich Hannover reist noch immer quer
durch die Republik. Nicht mehr zu Prozessen. Die Zeit ist längst vorbei. Aber
zum Beispiel ins Kölner Humboldtgymnasium, wo er mit einem Jugendfreund in der
Klasse eines seiner Enkel über die gemeinsame Kindheit im Vorpommerschen Anklam
plauderte. Über die Zeit damals, als die Jungvolkdevise lautete: "Zäh wie
Leder, hart wie Kruppstahl und flink wie die Windhunde"; die bürgerliche
Welt des 1925 Geborenen langsam anfing zu bröckeln, und sein Vater, Chefarzt im
städtischen Krankenhaus, dafür sorgte, dass die Putzfrau, deren Mann Kommunist
war, aus der Haft der Nazis wieder entlassen wurde. Ja, "eine gewisse Liberalität herrschte
schon in unserem Haus", daran kann sich Heinrich Hannover gut erinnern.
Auch wenn der Vater gleich nach ‚33 in NSDAP und SS eingetreten war. Der Drill
des Jungvolkes, in das ihn seine Eltern drängten, Rechtsrum, Linksrum, war so
gar nicht nach dem Geschmack des jungen Heinrich. Ganz entgegen den Ratschlägen
des Vaters, der ihn stets ermahnte: "Jung, das ist Deine Zukunft".
Besorgt erkundigten sich die Eltern schon mal aus dem Urlaub: "Gehst Du
auch zum Dienst? Nein, er ging nicht zum Dienst. Jedenfalls
nicht freiwillig. Als sie ihn dann doch einzogen, 1943, in den Arbeitsdienst,
später dann - nur weil er Förster werden wollte - in die Division Hermann
Görings, des Reichsforstmeisters, da lernte er den Krieg kennen. 1944 kam er
zum Fronteinsatz nach Italien und wurde bald schon mit einer Lungenentzündung
ins Lazarett eingeliefert. Seine Kriegserlebnisse haben aus ihm einen
lebenslangen Pazifisten gemacht. Der Freitod seiner Eltern 1945, aus Angst vor
einer möglichen Internierung durch die Russen, hat ihn darin noch bestärkt. "Nie wieder Krieg, nie wieder
Faschismus" lautet seither seine Lebensdevise. In einer Art Zwischenbilanz
als Strafverteidiger schrieb er 1978: "Im Mai 1945, als das Hitlerreich
zusammenbrach, war ich 19 Jahre alt. Ich gehörte also zu denen, die noch
umlernen konnten." Er war, so seine Worte, vor seinem 19. Lebensjahr ein
anderer Mensch gewesen als danach. Jurist wurde er aus Verlegenheit. Eigentlich
wollte er in die höhere Forstlaufbahn, doch das klappte nicht, in den Wirren
der Nachkriegszeit. "Und was wird man, wenn man nichts anderes werden
kann: Mann wird Jurist", schrieb er einmal, und wer das heute liest spürt
förmlich sein Schmunzeln bei diesen Worten. Seine Vorbilder wurden der
hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer und der Politikwissenschaftler
Wolfgang Abendroth. Nach dem Jurastudium zerschlugen sich bald
seine Vorstellungen von bürgerlicher Karriere und gewinnträchtigen Mandanten.
Gleich mit seiner ersten Verteidigung setzte er sich ins Wespennest: 1954,
soeben erst als Anwalt zugelassen, stritt er für einen Kommunisten, der wegen
Landfriedensbruch vor Gericht stand. Ein Mandat, das er "mit dem Gefühl
übernommen hatte, als Verteidiger musst du unter Umständen Mörder und
Sittlichkeitsverbrecher verteidigen, warum nicht einen Kommunisten",
erinnert er sich. Der Ablauf des Prozesses war für ihn ein
Beispiel politischer Vorverurteilung, von denen er noch viele im Gerichtssaal
erleben sollte - bei seinen Auftritten als Nebenkläger in Naziprozessen, bei
seiner terroristischen Mandantschaft in den 70er Jahren. Günter Wallraff,
Ulrike Meinhof und Otto Schily gehörten zu seinen Mandanten. Er war Anwalt der
kleinen Leute ebenso wie der von Kollegen, die in der Hysterie der
Terroristenfahndung Ende der 70er Jahre ins Kreuzfeuer der Strafverfolger
geraten waren. Damals schlug er sich mit den Spitzenmanagern deutscher
Großbanken vor Gericht herum. Er versuchte vergeblich, Hermann Josef Abs als
Zeugen für die Verstrickung bestimmter deutscher Geldinstitute in die
Verbrechen der Nationalsozialisten vor Gericht zu zitieren. Eine damals heftig
unterdrückte Wahrheit, heute allgemein bekannt. Später verteidigte er Richter,
die vor Mutlangen demonstriert hatten, oder kämpfte dagegen, dass
deutsch-deutscher Landesverrat mit zweierlei Maßstäben gemessen wurde - je
nachdem, ob er sich gegen den Westen oder den Osten gerichtet hatte. In
Gerichtssälen lernte er den sanften Umgang der Justiz mit Naziverbrechern
kennen. Leidenschaftlich konterte er juristische Spitzfindigkeiten, mit denen
das Wiederaufnahmeverfahren in Sachen Carl von Ossietzky verhindert werden
sollte. Er kämpfte gegen bornierte Richter, sture Staatsanwälte, eine zu seiner
Zeit noch durch eine braune Tradition verdorbene Justiz. Stolz erinnert er sich, dass er wohl über
1.000 Kriegsdienstverweigerer vertreten hat. "Das hat die Bundeswehr einen
kleinen Panzer gekostet", gestand er mir kürzlich und dabei lächelte er
verschmitzt. Die musste nämlich, wenn sie den Prozess verlor, sein Honorar
bezahlen. Seine Anwaltstätigkeit hat ihn einiges
gelehrt: Zum Beispiel, dass es vor Gericht nicht unbedingt um Gerechtigkeit
geht, sondern nur um Recht. Und dass Beides, Gerechtigkeit und Recht, nicht
unbedingt das gleiche sein müssen. Außerdem begriff er bald schon, dass nicht
jeder, dem Unrecht getan wird, dies durch die Justiz wieder ins rechte Lot
gerückt bekommt. So hat er im Laufe seiner Anwaltspraxis
vielen Menschen ausreden müssen, sich gegen prügelnde und übergriffige Polizeibeamte
mit Strafanzeigen zu wehren. Weil ihm das Muster, nachdem solche Verfahren
abzulaufen pflegten, irgendwann zur Genüge bekannt war. Polizeibeamte haben ,
das wurde ihm zu seinem Leidwesen immer wieder bestätigt, bei deutschen
Gerichten einen kaum einholbaren Glaubwürdigkeitsvorsprung, gleichviel ob sie
als Zeugen oder als Beschuldigte auftreten. Heinrich Hannover hat den unbequemen Weg
gewählt. Den Weg, der ihn nicht beliebt machte, ihm dafür aber Achtung
einbrachte. Er musste sich immer wieder beschimpfen lassen. Von rechts ebenso
wie von links. "Solche Leute sind zum Kotzen!" schrieb ein wütender
Leser, auf ihn gemünzt. Ein anderes mal wetterte jemand: "Gegen die
Kapitalisten hilft nur die Revolution, gegen die Bolschewisten nur die
Anarchie, gegen Heinrich Hannover erst mal nur Prügel". Seine Familie
wurde durch Drohanrufe terrorisiert. Man beschimpfte ihn als
"Apo-Anwalt" und "Terroristen-Verteidiger". Und inmitten dieser Schmäh stand er da vor
Gericht - ich habe es oft genug erlebt - aufrecht, wirkte ganz wie ein
Gentleman der alten Schule, der Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit ebenso
verpflichtet wie seinen Mandanten. Und niemand hätte es gewagt, sich ihm
schulterklopfend, kumpelhaft, anbiedernd zu nähern. Das war nicht sein Stil.
Stattdessen war er zugewandt, aufmerksam, höflich und zuvorkommend, von
vornehmer Gradlinigkeit. Als zeitweiliger Anwalt von Ulrike Meinhof
musste er demütigende körperliche Durchsuchungen über sich ergehen lassen,
bevor er mit seiner Mandantin reden konnte. Es war für ihn, so notierte er
hierüber in seinen Memoiren, "eine neue, verstörende Erfahrung, als
Angehöriger eines Berufsstandes, der ein hohes Sozialprestige genießt, und in
dem sicheren Bewusstsein, alle Berufspflichten gewissenhaft beachtet zu haben,
plötzlich als potentieller Verbrechenskomplize behandelt und diffamiert zu
werden." Wer ihn kennt, weiß, wie sehr ihn dieser
Umgang empört, ja geradezu fassungslos gemacht haben muss. Als ihn dann 1972
die Springer-Presse in einer regelrechten Hetzkampagne zu den "45 namentlich
bekannten linksradikalen Anwälten" zählte ,die Sprengstoff und andere der
Ausübung von Straftaten dienende Gegenstände transportiert und Kassiber in die
Zellen der RAF-Häftlinge geschmuggelt hätten, platzte ihm der Kragen.
"Nichts davon ist je bewiesen worden, es war schlicht gelogen",
polterte er. Irgendwann damals reichte es ihm. Er stellte
Strafanzeige wegen Volksverhetzung gegen den Verleger Axel Cäsar Springer bei
der Staatsanwaltschaft Hamburg. Und zwar am 12. Juni 1972 - drei Tage vor
Ulrike Meinhofs Festnahme. In einer aufgeputschten Atmosphäre, an die sich
sicherlich noch Einige hier im Saal erinnern werden, die allerdings später
Geborene sich kaum noch vorstellen können. Seine Anzeige verlief im Sande, wie
hätte es auch damals anders sein können. Es war die Zeit, in der Anwälte, deren
Mandanten dem linken politischen Spektrum angehörten oder die in sogenannten
RAF-Prozessen verteidigten, mit Ehrengerichtsverfahren überhäuft wurden. So
auch Heinrich Hannover. Er selbst beschrieb die Vorgänge so: "Kaum hatte ich den Stress einer
politischen Strafverteidigung durchgestanden, manchmal sogar noch während der
Hauptverhandlung, lag die Mitteilung der Generalstaatsanwaltschaft auf dem
Tisch, dass ein standesrechtliches Ermittlungsverfahren beabsichtigt oder schon
eingeleitet worden sei". Doch wer durch derlei Nickeligkeiten, durch
derlei Drohgebärden einen Mann wie Heinrich Hannover mundtot machen wollte, ihn
auf unpolitisches Terrain zu drängen gedachte, der hatte sich schwer getäuscht. Dazu war er zu sehr gefestigt in seiner
demokratischen Haltung, seiner Verpflichtung gegenüber, Unrecht und
Unterdrückung zu bekämpfen. Nie wich er von seinem Credo ab, wonach auch der
erbärmlichste Verbrecher einen guten Verteidiger verdient hat. Es musste ja
nicht immer unbedingt ein Heinrich Hannover sein. Doch wer von ihm vor Gericht
vertreten wurde, der konnte sich ganz auf seine Loyalität, seinen Einsatz
verlassen. Heinrich Hannover hat sich stets bemüht, alle juristischen Wege bis
zur Neige auszuschöpfen. Zum Leidwesen manch eines Richters, sicherlich
zahlreicher Staatsanwälte. Dabei musste er auch Niederschläge
hinnehmen, mit ansehen, wie die Justiz sich verfing und verzettelte. Er hat
erlebt, wie unliebsame Akten auf den Fluren der Gerichte einfach spurlos verschwanden.
Er hat sich mit Staatsanwälten herumschlagen müssen, die noch ganz im strammen
Antikommunismus des Dritten Reiches geschult worden waren und ihre Haltung
nahtlos in die neue Republik mit hinüber gerettet hatten. Er hat sich nicht
klein kriegen lassen, immer gegen den Strich weiter gebürstet. Sich eine Justiz
erhofft, die unbeeinflusst und unvoreingenommen dem Angeklagten die
Menschenwürde belässt. Um ihn dann aufgrund von Fakten, von Beweisen zu
beurteilen und nicht aufgrund von Vorurteilen und Voreingenommenheiten. Wer
sonst außer Hannover hat dermaßen quer durch die Republik verteidigt? Wessen
Rückblicke könnten die justitiellen Tiefpunkte in den Gerichtssälen Ende der
70er Jahre entschiedener belegen? Entsprechend sein Resumèe über ein halbes Jahrhundert
Strafverteidigung: "Mir reicht's für heute!" Ein Ausruf, mit dem auch seine
Kindergeschichte über das Pferd Huppdiwupp aufhört. Nach diversen
nervenaufreibenden und frustrierenden Großverfahren zog sich Hannover in sein
Bauernhaus in Worpswede zurück. Doch statt zu dösen, statt sich als Rentner zur
Ruhe zu setzen, nahm er wieder Platz, diesmal an seinem Schreibtisch, um sein
Lebenswerk zu dokumentieren. In der Hoffnung, auch mit Büchern die Welt
verändern zu können. "Wer fast ein halbes Jahrhundert
deutsche Strafjustiz und ihre Gefängnisse aus der Sicht eines Strafverteidigers
erlebt hat, der muss irgendwann etwas anderes tun, um nicht an der Welt zu
verzweifeln". Mit diesem Satz leitete Heinrich Hannover
1999 im zweiten Band seiner Erinnerungen seinen Abschied ein - der Abschied
eines streitbaren Juristen und Rebells in schwarzer Robe, eines unbeugsamen
Sozialisten, leidenschaftlichen Kinderbuchautors und detailgenauen
Dokumentaristen, eines unwiderruflichen Pazifisten und Streiters für Gerechtigkeit
und Recht. Seine im Aufbau-Verlag erschienen
Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts richten sich an eine juristisch
interessierte, wenn nicht gar geschulte Leserschaft. An ein Publikum, das am
Beispiel der Justiz die Veränderungen dieser Republik nachvollziehen möchte.
Hannover hat diese Entwicklungen beschrieben, bis in die kleinsten
Verästelungen hinein, belegt anhand von Schriftsätzen oder dem, was seine
Kontrahenten ihm vorhielten. Womit sie ihn aufs Glatteis und seine Mandanten
dadurch entweder ins Gefängnis führen oder sie um jeden Preis hiervor bewahren
wollten. Je nachdem, um wen es ging: Einen Naziverbrecher oder einen
Linksterroristen. In einer Zeit, in der Rechtsanwälte durch
Werbung auf ihre Fähigkeiten aufmerksam machen dürfen, in der hart um Mandate
gerungen wird, wirkt Hannover wie die Vaterfigur eines gesamten Berufsstandes:
Vorbildlich integer, seinem Mandanten zugewandt - auch wenn mal nicht gezahlt
werden konnte, oder die Terminierung der Gerichte bei Großprozessen so
ungünstig lag, dass der Verteidiger in arge pekuniäre Engpässe geriet. Wie
damals im Boock-Verfahren, dem aufreibendsten Prozess in Hannovers Laufbahn, in
dessen Verlauf der Bremer Strafverteidiger 15 Monate lang fast jeden Tag in den
Abendstunden auf Reisen war, mal nach Stammheim, mal nach Hause. Während dieser
Zeit war die Übernahme anderer Mandate für ihn unmöglich. Hinzu kam noch, dass dieser an seinen Nerven
zerrende Prozess eine Seite deutscher Justizausübung zeigte, die er, wenn er
sie nicht selbst erlebt hätte, nicht für möglich gehalten hätte. Womit er die
Feindseligkeit und den bösartigen Ton im Gerichtssaal ebenso meinte, wie die
rigorose Ablehnung fast aller seiner Anträge durch das Gericht. Ein Klima, das
seiner Einschätzung nach darauf angelegt war, Menschen fertig zu machen. Etwas,
das ihm gänzlich wesensfremd ist. Wie sehr hat es ihn verletzt, als er erfuhr,
woran möglicherweise eine juristische Sühne des Mordes an Ernst Thälmann
scheiterte. Im Prozess gegen einen KZ-Aufseher, der eben dieses Mordes beschuldigt
wurde, stand Heinrich Hannover ausnahmsweise als Nebenklagevertreter auf der
Anklägerseite. Eine Rolle, die zwar - so erinnert er sich - hoffnungsvoll
begann, aber mit dem üblichen Freispruch endete. Dazwischen lagen Jahre des
Kampfes und ein von Hannover durch Klageerzwingungsverfahren herbeigeführter
Prozess. Der Angeklagte KZ-Aufseher Wolfgang Otto hatte immer wieder
nachsichtige Juristen gefunden. Und war, wen wundert es, letztlich
freigesprochen worden. In einem Verfahren, dass Hannover noch am Tag der
Urteilsverkündung 1988 als "Terroristenprozess besonderer Art",
wertete, "bei dem der Angeklagte weder Fesseln noch spürbare
Gewissenslasten mit sich herumtrug, das Gericht ein Höchstmaß an Rücksichtnahme
und Gründlichkeit zeigte und die Staatsanwaltschaft sich frei von jedem
Verfolgungseifer präsentierte." Doch die juristische Aufarbeitung des Mordes
an Ernst Thälmann hatte ein Nachspiel. Ein möglicher Zeuge des Geschehens
damals im KZ-Buchenwald, ein Kollege des angeklagten KZ-Aufsehers, wurde zwar in
beiden Prozessen gegen Otto von den Richtern geradezu verzweifelt gesucht. Er
hätte möglicherweise aufhellen, erklären können, war vielleicht sogar in die
Tat verwickelt. Auch an die DDR war die Bitte gegangen, diesen Mann
aufzuspüren. Doch dort gab man sich scheinheilig, behauptete, nichts von der
Existenz des Gesuchten zu wissen. Eine faustdicke Lüge. Denn der lebte längst, von DDR-Behörden mit
einer neuen Identität versehen, in Melle bei Osnabrück. Als Gastwirt. In seinem
Lokal "Heimathof" ging Bonner Prominenz ein und aus, Herbert Wehner
ließ sich ebenso wie Kai-Uwe von Hassel fürs Gästebuch ablichten. Und es wurde
nie geklärt, ob die DDR ihn deckte, weil er dort als Stasispion fungierte. Heinrich Hannover hatte in den beiden
Prozessen gegen den mutmaßlichen Thälmann-Mörder stets lobend erwähnt, wie
bereitwillig die DDR-Behörden Amtshilfe bei der Aufklärung des Mordes an ihrem
Nationalhelden geleistet hatten. Fassungslos musste er nach dem Fall der Mauer
und der Öffnung der Stasiarchive erfahren, dass die DDR stattdessen alles getan
hatte, um eine Aufklärung zu verhindern. Er nannte dies später "eine der
vielen Enttäuschungen, die man als Sozialist mit der DDR erlebt hat."Dies
alles auszuhalten half ihm sein zweites Standbein, seine zweite Karriere. Heinrich
Hannover war nicht nur Strafverteidiger mit Leib und Seele, sondern er war und
ist immer noch ein beliebter und gefragter Kinderbuchautor. Seinen sechs
Kindern erzählte er mit nie endender Geduld und Begeisterung kleine
Geschichten. Die veränderten sie durch Nachfragen, Bemerkungen, spontane
Phantasien. Heinrich Hannover schrieb all dies auf. Die Bedeutung, die diese
Erzählungen für ihn hatten und noch heute haben, beschreibt er so: "Das Erfinden und Erzählen von
Kindergeschichten war für mich eine Erholung von den Strapazen und
Anfeindungen, denen ich als Anwalt in politischen Strafsachen ausgesetzt
war." Seine Leidenschaft fürs Erzählen knüpft er
an die Hoffnung, dass dies etwas bewirkt, "dass aus Kindern, deren Eltern
die Mühe des Geschichtenerzählens nicht gescheut haben, einmal gute Sozialisten
werden." Eine Hoffnung, die er noch immer hegt - diesmal bezogen auf seine
Enkel. Sein erfolgreichstes Kinderbuch war
sicherlich das "Pferd Huppdiwupp", 1968 erstmals erschienen. 1972
wurde es als einer der ersten Titel des Rowohlt-Verlages in der Rotfuchs-Reihe
übernommen. Etwa 280.000 Exemplare wurden inzwischen verkauft. Es dürfte mit
eines der erfolgreichsten und langlebigsten Kinderbücher der letzten Jahrzehnte
sein. Die Geschichte von einem Pferd, das unbedingt
ganz hoch hinaus springen will, hat ganze Kindergenerationen begeistert. Einem
Pferd, dem das Häuschen der Großmutter als Hindernis gerade recht ist. Mit
einem Huppdiwupp-Anlauf setzt es an, hebt ab. Doch das übermütige Pferd bricht
ein, landet auf Großmutters Kaffeetisch und "platsch!" mit einem Huf
mitten in der Schlagsahne. Spätestens an dieser Stelle halten die Kinder den
Atem an, denn jetzt wird Geschimpft, jetzt folgt Strafe! Doch weit gefehlt. Nicht bei Heinrich Hannover. Stattdessen
lädt die Großmutter das Pferd erstmal zu Kaffee und Kuchen ein, setzt sich dann
auf seinen Rücken, ermuntert es gar - nunmehr gestärkt - einen neuen Sprung
über ihr Häuschen zu wagen. Welches Kinderherz wäre hiervon nicht begeistert? Dann war da noch der Hase Puschelschwanz.
Auch in dieser Kindererzählung gelingt es Heinrich Hannover mit subtiler
Erzählkunst aus einer Totschlagsgeschichte eine Frühstücksidylle zu machen.
Denn anders, als eigentlich geplant, wird der Hase Puschelschwanz nicht etwa
erschossen, nur damit der Förster sich aus seinem Schwanz einen neuen
Rasierpinsel machen kann. Nein. Der Hase kommt von nun an jeden Morgen ins
Forsthaus, seift den Förster mit seinem Schwanz ein, und genießt anschließend
mit dem Försterehepaar gemütlich ein Frühstück. Ein Schmunzler, so recht geeignet, kuschelig
unter der Bettdecke dem vorlesenden Elternteil zu lauschen. Ebenso wie der
Geschichte über die Räubers, einer Familie, bei der die Kinder sich so richtig
daneben benehmen dürfen, sich nicht waschen, kämmen, keine Zähne putzen müssen. In Worpswede, wo Heinrich Hannover seit
Jahren schon seinen Lebensabend verbringt, hat er weiter für Kinder gedichtet. O-bibbele-babbele-bobbele-baden, Am Fenster hängt ein dünner Faden. Und an dem Faden -tibbele-tasche - Hängt eine ziemlich große Flasche. O-tibbele-tabbele-tobbele-tisch, Und in der Flasche schwimmt ein Fisch. Der sieht durch's Glas ‚ne kleine Fliege. Und denkt: "Na wart', wenn ich dich
kriege!" Doch leider konnte er nicht raus, Da lachte ihn die Fliege aus. Hier, in Worpswede erfüllt er sich nun ein
Stück seines kindlichen Förstertraumes. Ab und zu macht er einen Abstecher ins
städtische Leben, taucht wieder auf, wie kürzlich erst mit seinem Jugendfreund
am Kölner Humboldt-Gymnasium. Wo er den aufmerksam lauschenden Jugendlichen
schilderte, dass ein Lehrer, ein NSDAP-Kreispropagandaleiter, ihnen damals so
Aufsatzthemen aufgab wie "Der Führer spricht" oder "Kein Mensch
gedeihet ohne Vaterland". Dieser Lehrer schilderte den Kindern damals,
Kommunisten und Sozialdemokraten würden wegen ihrer Gefährlichkeit ins KZ
gebracht, müssten dort zur Strafe Steine auf Schubkarren laden und sie von
einer Ecke zur anderen transportieren. "Wir haben wahrscheinlich darüber
gelacht", beschrieb Heinrich Hannover den Kölner Jugendlichen seine
damalige Reaktion und fügte hinzu: "Ich schäme mich dafür". Für all das, wofür er in seinem Leben als
Anwalt stand, womit sein Name verbunden wird, was ihn zum Vorbild vieler junger
Juristen macht, braucht sich Heinrich Hannover nun wahrlich nicht zu schämen.
Dass er heute für sein Lebenswerk den Hans-Litten-Preis bekommt, als ältestes
Mitglied der VDJ, der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V.,
ist nur folgerichtig. Hannover hat die VDJ einmal als die einzige politische
Organisation bezeichnet, in der er mit Menschen zusammenarbeiten kann, denen er
politisch am nächsten steht. Er sähe in der VDJ die größte Chance, seine
eigenen Überzeugungen in Gesprächen mit anderen zu diskutieren, aber auch aus
Widersprüchen zu lernen. Diese Preisverleihung freut mich zutiefst -
und aus voller Überzeugung habe ich diese Laudatio auf einen Mann gehalten,
dessen Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, dessen Humor, Anteilnahme,
Bescheidenheit und gedankliche Beweglichkeit mich in den Jahrzehnten, in denen
ich ihn schon kenne, stets zutiefst berührte. Nicht zu vergessen, sein Schwung
und seine Wendigkeit auf der Tanzfläche. Ich möchte meine Laudatio, der Sie bis
hierher mit soviel Aufmerksamkeit gefolgt sind, mit einem Schlaflied Heinrich
Hannovers an seine Kinder und Enkel beenden: Schlaf ein, mein Kind, schlaf ein! Ein Schiff fährt auf dem Rhein. Es fällt viel Brot vom Tische, Da freuen sich die Fische. Schlaf ein, mein Kind, schlaf ein! Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
[ document info ]
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/dokumentation/?em_cnt=1608247&em_loc=11
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