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Heinrich Hannover
Geisterstunde im Bremer Ratskeller
Der Bremer Ratskeller war schon immer ein Ort nächtlicher Begegnungen zur Geisterstunde. Und seit ich nur noch als Gespenst umherschweife, treffe ich dort die anderen Abgeschiedenen, die ich aus Lebzeiten kenne, die einen gern, die anderen weniger gern. Und den anderen geht es mit mir sicher ebenso. Denn ich galt, als ich noch lebte, als unbequem.
Erfreulich ist für mich das gelegentliche Wiedersehen mit den Geistern alter Freunde, die mir auf dem Wege in eine ungewisse Ewigkeit vorangegangen sind. Da wäre etwa Peter-Paul Zahl zu nennen, der einst den Bremer Literaturpreis bekam, als er noch wegen eines fragwürdigen Terroristenurteils einige Jahre im Knast verbringen mußte. Oder Willi Meyer-Buer, der als kommunistischer Abgeordneter der Bremer Bürgerschaft auch bei politischen Gegnern hohes Ansehen genoß und als Widerstandskämpfer gegen das Hitler-Regime eine vorbildlichere Vergangenheit vorzuweisen hatte als die Richter, die ihn im Jahr 1963 erneut für seine unerwünschte Gesinnung bestraften. Oder der Bremer Fabrikant Paul Bielefeld, ein allzu früh verstorbener Pazifist, der mich zusammen mit zwei weiteren Freunden nach Einführung der Wehrpflicht im Jahr 1956 aufsuchte, um mich als Prozeßvertreter für Kriegsdienstverweigerer zu gewinnen. Was bei einem Rechtsanwalt, der selbst den Krieg als Frontsoldat erlebt und nur mit Glück überlebt hat, keiner Überredung bedurfte.
Zu denen, für die ich schon zu Lebzeiten ein rotes Tuch war, gehörten bei dem gestrigen Ratskellertreffen großer und kleiner Geister die beiden Herren in der benachbarten Priölke zur Rechten, die wohl aus Prestigegründen auch als Gespenster die schwarze Berufskleidung ihrer Zunft beibehalten hatten. Sie unterhielten sich über einen Mordfall in Oslebshausen, dessen Jahrestag sich gerade zum siebzigsten mal gejährt und wieder viel Aufmerksamkeit in den Bremer Tageszeitungen gefunden hatte. Der eine hatte damals als Staatsanwalt, der andere als Gerichtsvorsitzender an einem aufsehenerregenden Fehlurteil gegen einen Unschuldigen mitgewirkt, das der Verteidiger nur mithilfe glücklicher Zufälle wieder aus der Welt schaffen konnte. Nun durfte ich mir anhören, dass diese beiden Justizgewaltigen noch immer daran festhielten, ihr damaliges Urteil und nicht der schließlich von ihren Kollegen verkündete Freispruch des Angeklagten sei richtig gewesen.
Glücklicherweise fand ich mit meinem Widerspruch die Zustimmung bei einem
Kollegen aus der zur anderen Seite gelegenen Priölke. Es handelte sich um den Rechtsanwalt Aktenstaub, den viele Kinder aus der Geschichte von der Mücke Pieks am Telefon kennen. Er hatte sich noch bis vor kurzem mit der real existierenden Justiz herumgeschlagen, der ich schon rechtzeitig den Rücken gekehrt hatte. Ihn fragte ich so laut, dass es auch die rechten Nachbarn hören konnten, ob es eigentlich noch immer Richter und Staatsanwälte gebe, die sich für unfehlbar halten. Er konnte mich beruhigen. Es sei alles besser geworden, seit ein prominenter Linker Justizsenator ist. Die ehemalige Strafanstalt in Oslebshausen sei jetzt ein Museum, in dem man die noch vor einer Generation übliche menschenunwürdige Massenmenschhaltung von Verurteilten besichtigen könne. „Ja, die Unterbringung im früheren Parkhotel ist natürlich komfortabler,“ spöttelte einer der Herren von nebenan, „nur die Gitter vor den Fenstern und die Mauer um den Hollersee sind etwas störend.“
„Auch sonst ist ja fast alles besser geworden,“ sagte mein Gesprächspartner, ohne auf die Ironie der beiden Schwarzgekleideten einzugehen. „Bremen ist seine Schulden los, seit die Bundeswehr abgeschafft ist und keine Milliarden mehr für Rüstung und Kriege verpulvert werden. Denn das hat ja so viel Geld in die Bundeskasse gespült, daß uns aus der Patsche geholfen werden konnte.“ Aus der übernächsten Priölke mischte sich eine frühere Aktivistin der Linken ein: „ Auch die Enteignung der Banken und ihrer Zocker, sowie die Vermögenssteuer haben einiges gebracht.“ „Und nicht zu vergessen;“ sagte ich, „die Anpassung der Renten an das Niveau der Beamtenpensionen, eine lange überfällige Konsequenz aus dem Gleichheitssatz.“ Man hörte Protest der konservativen Robenträger aus der rechten Nachbarpriölke, wo man sich schon öfter geräuspert hatte, sobald ich mich allzu deutlich als Linker zu erkennen gab. Aber die schwarzen Herren wurden überstimmt, denn die Mehrheitsverhältnisse in der Geisterversammlung von 2041 sind ja durchaus anders als vor 30 Jahren
Dann gab es eine kurze Unterbrechung der gespenstischen Debatte, als das Pferd Huppdiwupp, das seit 1968 durch deutsche Kinderzimmer geistert, in Begleitung der Großmutter auftauchte, über deren Haus es damals vergeblich zu springen versuchte. Beide wie aus dem historischen Kostümfonds des Theaters am Goetheplatz gekleidet. Es wurde etwas eng in meiner Priölke, als ich die beiden bat, bei mir Platz zu nehmen. Aber da man sich als Gespenst ziemlich dünn machen kann, ging es. Der Rosewein, der jede Nacht, gehörig verdünnt, für durstige Geister bereitgestellt wird, beflügelte denn auch bald unser Gespräch, bei dem sich die Großmutter über den Lärm beschwerte, der auf dem Liebfrauenkirchhof während der Bürgerparktombola immer noch herrscht. Die reitende Großmutter schmückt ja seit einiger Zeit in Stein gehauen die Fassade der Liebfrauenkirche, wo sie auf Beschluß der linken Bürgerschaftsmehrheit den alten Militaristen Helmuth von Moltke abgelöst hat. Der parlamentarischen Frauenquote ist es zu verdanken, dass den Großmüttern in Bremen endlich ein ihren Verdiensten angemessenes Denkmal errichtet worden ist.
Im Zuge der geistigen Entmilitarisierung sind selbstverständlich auch die Straßennamen geändert worden, mit denen in Bremen an die von Moltke geschlagenen Schlachten des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 erinnert wurde. Auch Bismarcks Reiterstandbild am Dom wurde selbstverständlich längst entsorgt und durch ein von Waldemar Otto geschaffenes Bildwerk ersetzt, bei dem Herr Ackermann, der einstige Chef der Deutschen Bank, einem Esel in Erwartung von Goldstücken ins Hinterteil schaut.
Was sonst noch im Jahr 2041 geschehen ist, war in den Bremer Tageszeitungen nachzulesen, die insbesondere wegen ihres umfangreichen Kulturteils überregionalen Rang erlangt haben. Besonders Wolfgang Amadeus Mozart wurde anläßlich seines 250. Todestages in zahlreichen Beiträgen gewürdigt. Und seine unsterbliche Musik wurde von den beiden international berühmten Bremer Orchestern bevorzugt gespielt. Vor 100 Jahren, als ich noch lebte, hatte man eine über das ganze Jahr erstreckte Sendereihe im Rundfunk gebracht, in der Mozarts Kompositionen verbunden mit Lesungen aus seinen Briefen und Berichten über sein Leben zu hören waren. Damals, im Jahr 1941, habe ich als 16-jähriger jeden Sonntag vorm Radiogerät gesessen und eine Musik genossen, die vergessen machen konnte, dass zu gleicher Zeit Hitlers Wehrmacht in Rußland einen furchtbaren Krieg führte und Millionen mißliebiger Menschen verschwanden, die vertrieben, eingesperrt oder ermordet wurden. Der damals herrschende aus Kultur und Kulturschande gemischte Zeitgeist ist mir erst nachträglich bewußt geworden. Und so bin ich mir heute nicht sicher, ob künftige Generationen, die mit den Folgen der von uns angerichteten Klimakatastrophe leben und unseren tödlich strahlenden Atommüll bewachen müssen, die Welt von 2041 wirklich so friedlich sehen werden, wie unsere Phantasien im Bremer Ratskeller sie geträumt haben. Das Pferd Huppdiwupp stampfte jedenfalls unverschämt laut und unerträglich lange Protest auf dem Boden des Ratskellers, was mich an die Schlußszene von Hebbels „Nibelungen“ erinnerte, deren Inszenierung vor 30 Jahren Rainer Mammen, der unvergessene, geliebte und gehasste Theaterkritiker, damals so gnadenlos verrissen hat.